Wulf Schirmer: Das Bauwerk als Quelle

Während sich die Zeitschrift für die Geschichte der Baukunst, die architectura, ganz selbstverständlich der ganzen Breite architekturgeschichtlicher Forschung gleichermaßen verpflichtet fühlt und dieses in ihrer Programmgestaltung auch immer wieder zum Ausdruck kommt, steht in ihrem Jahrgang 1994 eine Reihe von Beiträgen im Mittelpunkt, die von neuen Ergebnissen der Bauforschung berichten, und zwar von der Erforschung mittelalterlicher Bauwerke. Damit ist in zweifacher Hinsicht eine Themenkonzentration erfolgt: Es geht hier um die Bauforschung – auch als historische Bauforschung, archäologische Bauforschung oder Bauarchäologie bezeichnet – und es geht um mittelalterliche Architektur. Mit diesen beiden Stichworten ist zugleich aber auch das Arbeitsfeld des Denkmalpflegers und Hochschullehrers Walter Haas umschrieben, dem dieser Band gewidmet ist und dessen Werk als Bauforscher damit gewürdigt werden soll.

Die erste Anregung, mit einer derartigen Zusammenfassung von Beiträgen auf die Arbeit von Walter Haas hinzuweisen, ging 1992 von Mohammed Scharabi aus, dem schwere Krankheit dann aber versagt hat, auch selbst einen Beitrag beizusteuern. Auf einem Kolloquium zu „Bauforschung und Denkmalpflege“ im Herbst 1993 in Darmstadt haben dann einige der Autoren dieses Bandes über die Themen ihrer Beiträge referiert; weitere hinzu zu gewinnen machte kaum Mühen, galt es doch, von den Ergebnissen und über die Methoden eines besonderen Gebietes innerhalb des weiten Feldes architekturgeschichtlicher Forschung zu berichten, eben von der Bauforschung, für die das historische Bauwerk selbst die wichtigste Quelle ist, die es auszuschöpfen gilt, um die stummen Zeugen der Geschichte, die großen erhabenen Bau-denkmale ebenso wie die zunächst unscheinbaren Bauten, zum Sprechen zu bringen, zu berichten über die Bedingungen und Schritte ihrer Entstehung und über ihr weiteres, oft vielfältiges Schicksal.

Das Bauwerk als Quelle: Beobachten, Messen, Zeichnen und Beschreiben sind Schritte, mit denen sich die Bauforschung dem Bauwerk nähert, Spurensuche, Vermerken aller auch zunächst unbedeutend erscheinender Einzelheiten, steingerecht und verformungsgetreu. Über diese Schritte, die sich zur Bauaufnahme vereinigen, und – wo vorhanden – zusammengefügt mit den Aussagen schriftlicher Quellen und Überlieferungen, kann es gelingen, Einblick zu gewinnen in die Entstehungs- und Lebensgeschichte eines Bauwerkes und oftmals auch vorzudringen bis zu den Intentionen, den Planungsvorstellungen und zum Konstruktionsverständnis von Bauherr und Baumeister.

Daß die Bauforschung dabei nicht nur bei Bauwerken aus frühen Perioden der Geschichte allein auf das Bauwerk als Quelle angewiesen ist, sondern gerade auch bei vielen Bauten jüngerer Zeit, bei Wohnbauten etwa, denen in der Kulturgeschichte des Menschen nicht mindere Bedeutung zukommt, liegt in der Natur der Dinge. So sind denn also die Methoden der Bauforschung diejenigen der Archäologie, besser: Der prähistorischen Forschung, der alleine die materiellen Zeugen einer Kultur und die Zusammenhänge, in denen sie angetroffen werden, für eine Erhellung kulturgeschichtlicher Zusammenhänge zur Verfügung stehen.

in: architectura, 24, 1994 (1995), 1/2 (Das Bauwerk als Quelle), S. 323

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